Tour-ismus
Der 14. Juli 2022 wird in die Geschichte eingehen: Nach zwei Jahren pandemiebedingter Abstinenz der Tifosi durften hinauf nach Alpe d’Huez endlich wieder Fans stehen. Über 100.000 sollen es gewesen sein, die die 21 Kehren des heiligen Grals förmlich überrant haben und kaum Platz für Pidcock, Vingegaard, Pogacar und die restlichen 156 Fahrer ließen. Bei den Live-Übertragungen von diesem Berg bekomme ich immer Herzrasen, weil ich jeden Moment damit rechne, dass sich einer der 100.000 Verrückten vor die Athleten wirft. So wie es 1999 dem Führenden Guiseppe Guerini geschah, der Opfer eines kurzsichtigen Amateurfotografs wurde.
Alpe d’Huez war schon immer mehr Oktoberfest als Radrennen, der Alkoholpegel der beiden Veranstaltungen dürfte auch weitgehend identisch sein.

Will man die Tour de France zum ersten mal mit dem Wohnmobil besuchen, startet man also vielleicht nicht an diesem Schicksalsberg der höchsten Kategorie, sondern übt an weniger umtosten Anstiegen. Den Gladitorenkampf um den besten Stellplatz muss man ja nicht gleich beim ersten mal gegen langjährig tourerfahrene Wohnmobil-Profis verlieren. Die Königstetappe ist sowieso nicht die beste Wahl – und vielleicht muss es gar nicht die Tour de France der Herren sein. Denn zum ersten mal seit 1989 gibt es wieder eine Tour de France der Frauen, die jetzt offiziell Tour de France Femmes avec Zwift heißt. Und mit drei Frauen zuhause ist das eh viel naheliegender.
Tour de Femmes: Viel weniger los, deswegen viel näher dran

Meine mitgereiste Große und ich „genießen“ gerade unsere Nudeln mit Pesto zum Abendessen, als wir unerwartet Besuch von Lisas Bruder bekommen. Quasi der Bart. Das hätte der Moment werden können, in dem wir uns für unsere Freveltat entschuldigen und das Plakat kleinlaut wieder abnehmen. Bart findet das aber lustig, und das Plakat bleibt für die Etappe am nächsten Tag hängen.

Die ersten Etappen der Tour de Femmes waren für mich als Zuschauer vor allem durch schwere Stürze gezeichnet, die die Vermutung nahe legen, dass die Fahrpraxis bei den Frauen bei weitem (noch) nicht so homogen ausgeprägt ist wie die der Männer. Das wiederum dürfte auch mit der Leistungsdichte zusammenhängen, die bei den Frauen ebenfalls viel gestreuter und damit – zumindest mein Eindruck – viel realistischer ist. Annemiek van Vleuten fährt auf unserer Etappe am Grand Ballon mit weit über drei Minuten Vorsprung in das gelbe Trikot, auf das Feld holt sie unfassbare 18 Minuten heraus. So muss Tour de France früher gewesen sein!
„Mutti“ Brennauer wirft mit Flaschen

„Unsere“ Lisa Brennauer kam mit der größten Gruppe den Berg hinauf. Und ganz offenbar wusste sie, dass sie leicht verfremdet bei uns am Wohnmobil hängt. Lisa winkte schon, als sie um die Kurve kam, ihr Teamfahrzeug von Ceratizit – WNT Pro Cycling hupte dazu im Takt und sie hat uns ihre Flasche zugeworfen (ganz zu Anfang des Videos). Das war richtig großartig! Wir haben ihr ganz offenbar eine Freude gemacht, und sie uns auch. Und vielleicht war das Winken auch schon der Abschied, denn was wir am am Samstag noch nicht wussten: „Mutti“ Brennauer wirft nicht nur mit Flaschen, sie beendet sogar ihre Karriere. Das berichtet am 3.8.2022 zumindest die Süddeutsche Zeitung unter der nicht ganz so schmeichelhaften Überschrift „‚Mutti‘ Brennauer hört auf“. Aber wer Lisa kann, der kann auch Mutti.
Hoffentlich hält die Tour de Femmes länger durch als die Tour de Feminin
Ein Segen, dass es eine Neuauflage des Etappenrennens für Frauen gibt. Wir hatten ein fantastisches Wochenende. Lisa und Bart, der eigentlich Bernd heißt, wohl auch.
Sehr schöner Artikel, Niklas!
Vor allem Dein hint auf die alten Relikte aus gefühlt noch älterer Zeit. Gruselig. Aber gut, sich das manchmal in Erinnerung zu rufen!
Meine große Tochter ist eher eine Wasserratte und beim DLRG erfolgreiche Schwimmerin und in der Wasserrettung unterwegs (und geht auch mal mit dem Rad wandern, dann eher mit [sehr] niedrigem 20er-Schnitt) – Aber mein Jüngster … der steht auf’s schnelle Radfahren … und kommt jetzt mit 10 langsam in das Alter, in dem er endlich auf’s Rennrad kann.
To be continued 🙂
Aaaaah, das macht Laune!
Fahren Deine Töchter auch Rennen? Ich bin schon so lange aus der Szene raus – ist diese Geringschätzung durch die Jungs bzw. Männer, die in den 1980/90ern noch verbreitet war, inzwischen überwunden?
Ich erinnere mich heute noch gut (und gern) an unseren Sponsor Willi, der den Jungs bei einer Fahrerbesprechung nach einem Renn-Wochenende eine klare Ansage gemacht hat. Ich hatte einen Sieg zu vermelden gehabt, der aus der Reihe der Vereinskameraden mit der Bemerkung honoriert wurde, ich hätte ja auch keine nennenswerte Konkurrenz, bei den Mädchen gäbe es ja kaum Starterinnen. Während ich noch mit der Mischung aus Verletzung, Enttäuschung und Empörung rang, die mich – eigentlich eloquent und schlagfertig – sprachlos machte, konterte Willi ganz sachlich: „Das ist doch Quatsch. Es gibt genauso viele Mädchen wie Jungs, und ihr könnt davon ausgehen, dass alle die, die gar nicht erst an den Start gehen, auch nicht schneller wären!“