Ausstellungsstück
Die Austragung des Rennens um den ersten Vlothoer Bergpreis hatte in unserer Familie den Effekt ausgelöst, den sich ein Veranstalter wünscht: Den Nachwuchs für den Radsport begeistern. Bei uns war das zumindest anfänglich auch vollkommen familienkompatibel, weil ja meine Mutter das erste Radrennen überhaupt gefahren und damit involviert war. Zumindest am Anfang war es kein Vater-Sohn-Sport. Auf der Woge der Begeisterung machte sich mein Vater in den gelben Seiten auf die Suche nach einem Fahrradladen mit Rennrädern. In Vlotho gab es damals tatsächlich noch einen Fahrradhändler, aber der verkaufte auch Nähmaschinen und selbstfahrende Rasenmäher und genoss damit wohl nicht sein Vertrauen. Fündig wurde er in Werste bei Bad Oeynhausen, und den Händler gibt es tatsächlich heute noch – wenn auch die Eigentümer mittlerweile gewechselt haben.
„Ich suche was für meinen Sohn hier.“
„Soll es für die Schule sein?“
„Neinnein, ein Rennrad.“
Über die Augen des Fahrradverkäufers legte sich ein leichter Glanz. Ein Rennrad verkauft man ja nicht jeden Tag.
„Da haben wir was ganz Besonderes, schauen Sie mal hier: Campagnolo Record Fünffachschaltung, Shimano Para-Pull-Bremsen und das Ganze in den Panasonic-Teamfarben. Unser bestes Modell.“
Sie standen vor dem Raleigh Panasonic Team Replica, damals eines der schönsten und schnellsten Räder überhaupt. Und teuer, sehr teuer. Was mein Vater nicht ahnen konnte.
„Wo liegen wir da denn preislich?“, wollte er wissen.
„Naja, das ist schon das oberste Segment. Da sind sie mit ein paar Tausend dabei.“
Mein Vater räusperte sich. „Geht es vielleicht etwas günstiger?“
„Was wollen sie denn ausgeben?“
„Naja. So um die 500 vielleicht.“
Der Herr Fahrradverkäufer ließ sich seine Enttäuschung nur ein klein wenig anmerken. „Das tut mir leid, da haben wir nichts. Ordentliche Räder haben halt ihren Preis.“ Er schob das Profi-Rad wieder in den Ständer und schaute meinen Vater dabei nicht an. Ignoranter Kunde! Mein Vater schämte sich ein wenig. Er hatte ja gar keine Ahnung, was so ein Rad kosten darf, aber viel Geld war nicht übrig.
„Aber warten sie mal“, sprang ihm der Herr Fahrradverkäufer unerwartet bei. „Wir haben da ein ganz tolles Ausstellungsstück zurück bekommen. Das war bei einem Opelhändler auf dem Dachträger zur Werbung montiert. Ein ganz tolles Stück!“
Der Herr Fahrradverkäufer ging kurz nach hinten in die Werkstatt und kam nach wenigen Minuten mit einem Rad zurück, das er locker mit einer Hand am Sattel in den Verkaufsraum dirigierte.

„Raleigh Record Sprint. Ein wundervolles Rad!“
Vor meinem Vater stand ein Traum aus schwarz. Goldener Raleigh-Schriftzug, dazu passende, messing-farbene Bremsen. Kettenblätter und Kurbeln hatten die gleiche Farbe, sogar die Bowdenzüge leuchteten goldfarben. Jeder Berliner Hipster würde sich heute dafür den Vollbart abrasieren lassen.
„Was ist denn das unten am Rahmen?“ Mein Vater wies auf eine kräftige Delle unterhalb des Flaschenhalters hin. Der Rahmen war dort auf beiden Seiten deutlich sichtbar eingedrückt.
„Ach, das. Bei Opel haben die das Rad selbst auf den Dachträger gestellt und dann die Halterung zu fest angezogen. Hatten wohl Angst, dass es runterfällt. Haha!“
Der Fahrradverkäufer grinste, mein Vater schaute skeptisch.
„Aber geht das nicht kaputt?“
„Ich bitte sie! Das ist Qualitätsarbeit! Reynolds 501 Rohre, die gehen doch nicht kaputt!“
Mein Vater fuhr mit dem Zeigefinger über die Delle und schaute noch skeptischer.
„Damit können sie noch ewig fahren fahren, ganz sicher. Ist ein top Rad! Total stabil!“
Zum Beweis wackelte der Herr Fahrradverkäufer ein wenig mit dem Rad hin und her.
„Sehen sie, alles in Ordnung. Günstiger geht es nicht, wir müssten halt sonst nochmal einen Blick auf das Panasonic werfen.“
Der Herr Fahrradverkäufer hielt das Rad mit einer Hand fest und schaute zu seinem Premium-Modell.
„Neinnein, schon gut, schaut ja auch toll aus. Dann nehmen wir das!“



So ähnlich muss es damals gewesen sein. Und mein Bruder war glücklich. Überglücklich. Mich hat das schwarze Rad auch total fasziniert. Das wollte ich auch haben! Wenn da nur diese Delle nicht gewesen wäre.
Aus der wurde nämlich nach nur wenigen Fahrten ein Riss, und als Jens den ersten echten Rennradfahrer traf, hat der ihn für lebensmüde erklärt. Nur wenige Tage später brach der Rahmen am Unterrohr auseinander.
Heute würde so ein Rad sicher nicht mehr in den Verkauf gelangen, und heute würde so ein Rad auch kein Mensch mehr kaufen. Mein Vater aber war damals ahnungslos, und Rennradler waren eine gesellschaftliche Randerscheinung. Es gab kaum Bücher darüber, kein Internet und wenig Vergleichsmöglichkeiten. Das Magazin „tour“ war quasi nur unter der Ladentheke zu bekommen, so dass man sich auf das Wort des Herrn Fahrradverkäufer verlassen musste. Nach einigen massiven Beschwerden hat mein Vater dann tatsächlich kostenlos einen neuen Rahmen bekommen. Umbauen musste er die Teile vom einen Rahmen an den anderen selber. Das war eine gute Übung für mein erstes Vereinsrad.
Eine Lektion aber hatten wir gelernt: Verlass Dich nur auf einen Fahrradhändler, der Dir von anderen Rennfahrern empfohlen wird. Bei dem Raleigh-Händler sind wir nie wieder gewesen.

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